Wenn der Bloggerkollege Tim Verhoeven ruft, folge ich gern: Im Rahmen der Blogparade «Recruiting Learnings durch Corona» (#recruitinglearnings2021) wollen wir gemeinsam Revue passieren lassen, wie sich Recruiting im letzten Jahr verändert hat / verändern musste. Direkt am Anschluss an den hervorragenden Artikel von Marcel Rütten dazu, wie Corona den Recruiting-Mix verändert hat, will ich mich der Frage widmen, welchen Einfluss Corona auf die Recruiting-Aktivitäten im KMU-Umfeld hat. Ich nutze dazu meine eigenen Erfahrungen als Head of HR der Hug Engineering AG und Erfahrungsberichte/Impulse, die ich über das Jahr hinweg von Kolleginnen und Kollegen bekommen habe.
Mich persönlich erinnert Recruiting (nicht nur) in Zeiten von Corona etwas an «Men in Black». Speziell ausgebildete Fachkräfte, die in höchstem Auftrag den Zuzug und Aufenthalt von «Aliens» regeln und überwachen. (insofern ein sehr schönes Bild für die Recruiting-Funktion, wie ich finde) Im Film gibt es am Anfang die Szene, in der Will Smith das erste Mal das MIB-Headquarter betritt und im Aufzug recht grossspurig posaunt, ihm müsse niemand was erklären, er kenne sich ja aus – was Tommy Lee Jones dann trocken mit «das ist in der Tat sehr beeindruckend, hier leider aber vollkommen für den Ar***» kommentiert.
Ähnlich muss es vielen (insbesondere jüngeren) Kolleginnen und Kollegen im Recruiting im Frühjahr gegangen sein: Nach 10 Jahren stetigen Wachstums ist von heute auf morgen alles anders: komplette Recruiting-Strategien und Einstellungspläne reif für den Papierkorb, laufende Einstellungen monatelang on hold, extreme Verunsicherung auf Unternehmens- und Kandidatenseite, externe Partner, denen ob wegbrechender Umsätze die Panik ins Gesicht geschrieben scheint. Plötzlich redet niemand mehr über Fachkräftemangel, dafür sind Kurzarbeit und Personalabbau die Stichworte der Stunde. Manche in den Recruiting-Abteilungen haben sowas in ihrer beruflichen Karriere noch nicht im Ansatz erlebt.
Recruiting 2020 im Rückspiegel
Die Corona-Situation hat auch uns eher auf dem falschen Fuss erwischt. Ich hatte zwar ohnehin kein extremes Wachstum geplant, aber den Plan für dieses Jahr war trotzdem dahin. Im Blick zurück will ich einige Beobachtungen teilen, die ich im Laufe des Jahres gemacht habe.
Im Frühjahr erstmal Stillstand
Beginnend ab März hat sich bis ins Mitte 3.Quartal sehr wenig bewegt. Zurückhaltung auf beiden Seiten kennzeichnete die Lage, wenig Bereitschaft, das Unternehmen zu wechseln. In dieser Phase hatte ich in allen 6 Ländern in meinem scope nur einen 2 Mitarbeiter, die selbst gekündigt haben. Ohnehin war Recruiting nicht an der Tagesordnung. Wegbrechende Planungssicherheit machte es schwierig, die richtigen Entscheidungen zu treffen; und zwischen Kapazitätsmanagement, Kurzarbeit und firefighting war nur wenig Luft für Recruiting.
Klasse statt Masse
Was in dieser Zeit aber bemerkenswert war: Die wenigen Positionen, die ich besetzt habe, liefen richtig gut. Quantitativ war zwar wenig los auf dem Markt, aber die Qualität war der Hammer. Als KMU hatte ich Kandidatinnen und Kandidaten auf der shortlist, die in normalen Jahren ausnahmslos zu den grossen Automotive-OEMs gegangen wären – bei uns hätten die sich im Leben nicht beworben. Insofern haben wir bei einzelnen Positionen sogar davon profitiert, dass bei den BMWs und Daimlers dieser Erde kurzfristig gar nix mehr ging (vor allem im Young Professionals- und Absolventenbereich). Aus meiner Sicht waren direkte Empfehlungen sowie aktive Kommunikation v.a. auf LinkedIn hierbei die Schlüssel zum Erfolg.
Remote Recruiting geht und zeigt unerwartete Stärken
Nach nur wenigen Wochen hatten wir zumindest die ersten Interviewrunden auf Teams oder Skype umgestellt (vorher waren wir bei 90% Präsenz auch im Erstinterview) und ich bin rückblickend mit den Ergebnissen mehr als zufrieden. Ich meine sogar, dass die stärkere Virtualisierung den Auswahlprozess in der ersten Runde deutlich beschleunigt hat (wir predigen das ja nicht ohne Grund seit Jahren) und ich neige dazu, die virtuellen Interviews diagnostisch sogar besser zu finden als Präsenztermine (zumindest für die erste Runde): Ich habe den Eindruck, dass durch mehr virtuelle Distanz der „Nasenfaktor“ und stark phänotypische Elemente (Stärke des Händedrucks, Gang, Mimik/Gestik – also all das, was uns an uns selbst oder andere Menschen erinnert, die wir positiv oder negativ assoziieren) nicht so stark ins Gewicht fallen. Das wäre sicher mal einen genaueren Blick wert!
Arbeitslosigkeit: We are biased
Sowohl line manager als auch Recruiter lernen gerade zum ersten Mal bewusst Kandidaten kennen, die arbeitslos sind, aber trotzdem top qualifiziert und motiviert. Viele Unternehmen mussten in der Krise harte Entscheidungen treffen (da nehme ich uns nicht aus), und Kollegen und Kolleginnen im Recruiting sowie in der Führungsrolle müssen die viel zu lang und gut trainierten Reflexe neu überdenken: Arbeitslosigkeit ist eben kein Makel, der direkt auf den C-Stapel führen muss (auch wenn das in vielen Unternehmen jahrelang gängige Praxis war). Wir merken in Zeiten von Corona sehr deutlich, dass das Leben komplex ist und manchmal unerwartete Wege geht! Ich hoffe ganz stark, dass diese Erkenntnis anhält.
Die 2.Welle kommt
Etwa seit September dreht sich der Wind im Recruitinggeschäft wieder: Ich sehe (bei uns, aber auch allgemein) deutlich mehr Kandidaten „freiwillig“ auf dem Markt, auch sehe ich mehr Kündigungen von Mitarbeitern. Auf mich wirkt das wie ein Nachholeffekt: die zwischenzeitlich extrem niedrigen turnover-Raten normalisieren sich wieder. Ich tippe sogar, dass wir diesen Nachholeffekt auch in 2021 weiterhin sehen werden: Die Leute werden, wenn die Krise dem Ende entgegen geht, nicht plötzlich generell zufriedener mit ihren Arbeitgebern oder genügsamer in ihren Karriereambitionen sein – Zurückhaltung und Sicherheitsbedürfnis waren m.E. eher der Corona-Sondersituation geschuldet. Auch wenn kurzfristig viele die Füsse stillgehalten haben, kommt das Karussell absehbar wieder deutlich in Schwung. Dann werden wir alle auch den Fachkräftemangel wieder deutlich spüren (und in den üblichen Postillen davon lesen).
LinkedIn: the place to be
Sourcing auf LinkedIn ist in der Krise noch mächtiger. Dazu werde ich mal einen extra Artikel schreiben, an dieser Stelle nur so viel: LinkedIn war wohl das Netzwerk, das mit #opentowork am schnellsten Möglichkeiten etabliert hat, die eigene (unfreiwillige) Verfügbarkeit zu artikulieren und solidarische Jobsuche zu organisieren (da hat das Netzwerk den „Netzwerk“-Gedanken mal voll ausgespielt). Im search und in der Direktansprache hatte ich einige ausgesprochen positive Begegnungen, und manche davon werde ich nun auch zu uns lotsen können. Falls Sie (vor allem im KMU-Umfeld) Kapazitäten haben, zusätzliche internationale Top-Absolventen in ihre Trainee-Programme aufzunehmen: These are golden times!
Was bleibt?
Zu den Anforderungen an Recruiting-Organisationen in und nach der Krise hat Tim Verhoeven schon einiges geschrieben, das ich umfassend unterstütze. [das ist eine Leseempfehlung!]
Ich glaube aber, dass die Corona-Krise als bisher einschneidendstes Ereignis in vielen Berufsbiographien vor allem eine langfristige Wirkung entfalten wird:
Die Art und Weise, wie unterschiedlich Unternehmen auf die Krise reagiert und wie sie ihre Mitarbeiter unterstützt haben (oder auch nicht), wird im kollektiven Langzeitgedächtnis hängen bleiben. All die Themen, die dieses Jahr wichtig waren – Führungsverständnis des Managements, Rücksichtnahme auf private und familiäre Herausforderungen, Arbeits-/Gesundheitsschutz, mobiles Arbeiten bzw. zeitliche/örtliche Flexibilität, nicht zuletzt die monetäre Solidarität mit den Mitarbeitenden – werden bei der Wahl von Arbeitgebern zu unvergleichlich wichtigeren Prüfsteinen. im Employer Branding, im Personalmarketing, letzten Endes aber jede einzelne Führungskraft in jedem Interview wird darauf richtig gute Antworten parat haben müssen. Die rein präsenz-orientierten Führungskräfte, die auch nach der Krise Homeoffice für Teufelszeug halten, werden kurzfristig aussterben; und manches Unternehmen, das nicht konsequent reagiert, auf dem Weg nach unten mitnehmen.
Was, wenn man einen Schritt zurück geht und das grosse Bild sieht, auch was gutes hat.
In Summe war das Recruiting im Corona-Jahr 2021 aus meiner Sicht also nicht nur schlecht, wie sie lesen konnten. Natürlich war es herausfordernder, belastender und nervenaufreibender als in normalen Jahren – aber da lag auch einiges Gold auf der Strasse, das man nur einzusammeln brauchte.
Zurück zum Start: Für die Recruitings-Agents J und K werden auch in 2021 neue Kandidaten-Aliens, Herausforderungen und Veränderungen warten. Aber ich gebe zu: Im Recruiting-Alltag und speziell in Zeiten von Corona hätte ich mitunter auch gerne so ein Blitzdings!
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